Die Dreigliederung des Sozialen Organismus – was ist das und wozu soll das gut sein? – von Nils Brodersen
Als Dreigliederung des Sozialen Organismus bezeichnete Rudolf Steiner ein Prinzip, dessen richtige Anwendung und Einhaltung er vor über 100 Jahren als unabdingbar für die gedeihliche Weiterentwicklung unserer modernen Zivilisationen erkannte und anmahnte.
Die Dreigliederung des Sozialen Organismus beruht dabei auf der Erkenntnis, dass sich jede größere Gemeinschaft von Menschen in die Bereiche Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben einteilen lässt.
Das Wirtschaftsleben hat hierbei die Aufgabe, die Menschen mit dem zu versorgen, was sie für ihren täglichen Bedarf benötigen.
Das Rechtsleben sorgt für die Aufstellung und Einhaltung der Regeln und Gesetze, die die Gemeinschaft sich gibt, um ihr Zusammenleben zu organisieren. Auch die politischen Entscheidungen über die Richtung, wie sich eine Gemeinschaft weiterentwickeln möchte und welche Struktur sie sich geben und ihr Zusammenleben mit anderen Gemeinschaften gestalten möchte sind Teil des Rechtslebens.
Das Geistesleben umfasst den Bereich, der die Beziehung des einzelnen Menschen zu seiner Umwelt beschreibt. Hierzu zählen Kunst und Kultur, aber auch Wissenschaft und Bildung sowie Gesundheit und Religion.
Das bisher Beschriebene mag für manchen Leser theoretisch wissenschaftlich/kompliziert klingen – auch mag manch einer der Person und dem Wirken Rudolf Steiners kritisch/zurückhaltend gegen-überstehen.
Dennoch wird das Prinzip der Dreigliederung des Sozialen Organismus im Grunde von jedem Menschen grundsätzlich richtig angewandt – ohne es zu kennen und sich dessen bewusst zu sein.
So wird Jeder Mensch zu seiner Versorgung mit Nahrungsmitteln einen (Super-)Markt aufsuchen und sich damit an eine Einrichtung des Wirtschaftslebens wenden. Um zu lernen und Kenntnisse zu erwerben wird sich jeder Mensch an eine (wie auch immer geartete) Schule wenden und damit an eine Einrichtung des Geisteslebens.
Was nun jeder Mensch ohne groß darüber nachzudenken von Natur aus richtig macht, läuft auf Staatsebene seit einigen Jahrhunderten aus dem Ruder. Prominentes Beispiel ist der Machtkampf zwischen katholischer Kirche (als Teil des Geisteslebens) und den politischen Machthabern, den Kaisern und Königen des Abendlandes (als Teil des Rechtslebens). Dieser Machtkampf musste (und wurde) letztendlich zugunsten der politischen Institutionen entschieden werden, denn es ist nun mal nicht die Aufgabe der Religion, Macht und Unterdrückung auszuüben sondern den Menschen in ihrer spirituellen Entwicklung, in ihrer Beziehung zur geistigen Welt sowie ganz allgemein in ihren Sorgen und Nöten beizustehen.
Schauen wir auf unsere heutige Gesellschaftsstruktur, stellen wir einen Machtkampf zwischen Rechts- und Wirtschaftsleben fest, wobei das Wirtschaftsleben deutlich in der Übermacht ist und beide, Rechts- wie Wirtschaftsleben das Geistesleben für sich einnehmen und teilweise regelrecht abtöten.
Zu welchen Verwerfungen diese Verflechtungen zwischen Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben führen können lässt sich gut an dem Umgang mit der sogenannten Corona-Pandemie beobachten:
Wir erinnern uns, Gesundheit ist Teil des Geisteslebens. Denn jeder Mensch hat naturgemäß unterschiedliche Bedürfnisse, Ansichten in Bezug auf seine Gesundheit und ist auch gesundheitlich unterschiedlich entwickelt. Was also gut für den einzelnen Menschen ist, kann letztendlich nur jeder Mensch für sich selber entscheiden – zusammen z.B. mit einem Arzt als Helfer und Berater.
Diese individuelle Angelegenheit ist nun mit den Maßnahmen zur Abwehr des Corona-Virus auf eine politische Ebene gehoben worden und damit vom Geistesleben ins Rechtsleben gewechselt. Das Rechtsleben zeichnet sich nun dadurch aus, dass es die Angelegenheiten aller Menschen gleichermaßen regelt und von daher auch alle Menschen gleich behandelt. Es ist ihm auch die Politik zu eigen, die sich durch ihren Drang zur Machtausübung auszeichnet und Durchsetzung eines Willens auf möglichst viele Menschen.
Die Folgen sind natürlich: gleiche Maßnahmen für alle Menschen, egal wie sie zu einer Virenerkrankung und ihrem Schutz vor derselben stehen. Dabei wurde teilweise massiv in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Menschen eingegriffen, was naturgemäß nicht von allen Menschen widerspruchslos hingenommen wurde, was zu einer Spaltung unserer Gesellschaft führte. Wobei die eine Seite Andersdenkende ausschließt aus Familien- und Freundeskreis, kulturellen Veranstaltungen (zumindest zeitweise) bis hin zum Ausschluss aus dem Berufsleben, was die Gegenseite ihrerseits mit Ausschluss aus Familien- und Freundeskreis und in Einzelfällen sogar mit Mord beantwortet wurde.
Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf hingewiesen, dass wir gut beraten sind, „Teile-und-Herrsche-Spiele“ in jeglicher Form jenen zu überlassen, die noch nicht erkannt haben, dass wir, allen Unterschieden zum Trotz, eine Gemeinschaft bilden und auch – ungeachtet unserer vielleicht gegenteiligen Überzeugungen und Handlungen – ein gemeinsames Schicksal zu durchleben haben. Ein anderer Text soll sich mit dem Prinzip „Teile und Herrsche“ als Machtinstrument genauer befassen.
Doch zurück zur Corona-Pandemie: Durch die Vereinnahmung eines individuellen Bereichs durch einen Bereich, der für alle gemeinsam zuständig ist, ist es auch gelungen, (verfeindete) Lager zu schaffen, die nicht mehr miteinander reden können (was auch eine wichtige Voraussetzung für einen wie auch immer gearteten Krieg ist). Denn individuelle geistige und körperliche Bedürfnisse lassen sich nun mal nicht auf einer politisch-juristischen Ebene kommunizieren (denken wir nur an die Absurdität, Impfen als einen Akt der Solidarität hinzustellen). Umgekehrt können Menschen, die ihre Bedürfnisse auf der dafür vorgesehenen individuellen Ebene kommunizieren, nicht von ihren Mitmenschen verstanden werden, die (unbewusst?) die Corona-Pandemie als eine politisch-juristische Angelegenheit betrachten.
Hier sehen wir also, wie dringend eine richtige Zuordnung der Dreigliederung des Sozialen Organismus ist, um das entstandene Durcheinander wieder auflösen zu können.
In seiner Schrift „Die Kernpunkte der Sozialen Frage“ erinnert Rudolf Steiner an die Forderung der Französischen Revolution von 1789 nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und glaubt, diese Forderungen ideal in der richtigen Dreigliederung des Sozialen Organismus verwirklichen zu können:
Das Geistesleben ist auf die Freiheit des einzelnen Menschen angewiesen um sich wirklich entfalten und die in ihm liegenden Potentiale ausleben zu können. Das bedeutet, dass weder Religion noch Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung etc. keinerlei Einflüssen aus Rechts- und Wirtschaftsleben unterliegen.
Gleichheit lässt sich am besten im Rechtsleben verwirklichen, denn in Politik und Justiz sind wir tatsächlich alle „gleich“. Denn jeder Mensch, der in der Lage ist zu denken, ist auch dazu befähigt einen eigenen (politischen) Willen zu formulieren. Ebenso lässt sich von jedem Menschen die Einhaltung eines Gesetzes wie “Du sollst nicht töten“ einfordern.
Hingegen lässt sich die Brüderlichkeit am besten im Wirtschaftsleben verwirklichen. Denn die ursprüngliche Aufgabe der Wirtschaft ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch das zur Verfügung hat, was er für sein Leben braucht. Wie ein brüderliches Wirtschaftssystem gelingen kann, darauf geht der Text „die Zukunft der Wirtschaft“ genauer ein. Ein Blick auf unser heutiges Wirtschafts-system reicht indes aus, um festzustellen, wie weit wir noch von diesem Ideal der Brüderlichkeit entfernt sind.
Da wir als Beispiel für unsere heute durcheinander geratene Dreigliederung den Umgang mit der Corona-Pandemie angeführt haben, soll hier kurz skizziert werden, wie ein Gesundheitssystem im richtig verstandenen Sinne der Dreigliederung aussehen kann:
Wie oben erwähnt, ist Gesundheit eine Angelegenheit zwischen Patient und Arzt (und dessen Helfern). So wären Krankenhäuser beispielsweise keine Filialen von Wirtschaftsunternehmen und damit Mittel zum Geld verdienen – denn Ziel einer Wirtschaftsunternehmung ist nun mal mit möglichst geringen Kosten möglichst hohe Gewinne einzufahren. Was das für unser Gesundheitswesen bedeutet, dürfte spätestens klar sein, als über die Streichung mehrerer tausend Krankenhausbetten bei zeitgleicher Überlastung der vorhandenen Kapazitäten berichtet wurde.
Sondern sie wären Stätten, an denen die Ärzte zusammen mit ihren Assistenten und den Pflegern ihren Patienten die Maßnahmen zukommen lassen können, die aus Sicht von Patient und Arzt zur jeweiligen Heilung erforderlich sind.
Das kann in kleinem Rahmen im individuellen Krankheitsfall geschehen, aber auch in größeren Rahmen ist dies möglich, wenn sich z.B. mehrere (zukünftige oder ehemalige) Patienten oder Ver-treter von Patientenverbänden mit den Ärzten zusammensetzen, um über die geeigneten und gewünschten Behandlungsmethoden und -anwendungen zu beraten. Hier könnten die Ärzte und ihre Helfer auch anführen, was sie für die Ausübung ihrer Arbeit brauchen. Aufgabe der Patientengemeinschaft (also aller Menschen) ist es dann, die Ärzteschaft mit den Mitteln auszustatten, die diese für ihre Arbeit benötigt. Das kann z.B. durch die Zahlung von Krankenkassenbeiträgen geschehen.
Wobei der Unterschied zur heutigen Situation ist, dass eine Krankenkasse heute als Wirtschaftsunter-nehmen die Aufgabe hat, mit den erzielten Einnahmen Gewinn zu machen und damit die Ausgaben an die Ärzteschaft möglichst gering zu halten.
Eine Krankenkasse in einer richtig dreigegliederten Gemeinschaft hat aber die Aufgabe, die Ärzteschaft in die Lage zu versetzen, ihre Arbeit so machen zu können, wie sie aus Patienten- und Ärzte-sicht notwendig ist.
Heutige Missstände wie Personalmangel und Angebotsverknappung bzw. Einsparungsmaßnahmen sollten sich damit abschaffen lassen. Auch wären die Patienten nicht mehr für die medizinischen Apparate und Medikamente da, sondern es wäre umgekehrt.
Abschließend noch ein paar Worte zur Umsetzung der Entflechtung der einzelnen Glieder im Zuge einer richtig verstandenen Dreigliederung des Sozialen Organismus:
Damit eine wirklich sinnvolle Entflechtung der drei Glieder gelingt, bedarf es bei einem ausreichendem Teil der Bevölkerung der Erkenntnis, dass unter den gegebenen Umständen eine Umsetzung dringend benötigter Reformen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems nicht möglich ist. Wir leben in Strukturen, die sich destruktiv auf unser Leben und unsere Lebensgrundlagen auswirken und die deshalb abgelöst werden müssen durch eine völlige Neuaufteilung der Bereiche Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben. Erst wenn eine ausreichende Anzahl von Menschen zu dieser Einsicht gelangt sein wird, wird eine Umsetzung der richtig geordneten Dreigliederung des Sozialen Organismus auf politischer Ebene Erfolg haben können.
Aber selbstverständlich muss nicht auf eine Umsetzung von parlamentarischer Seite her gewartet werden. Seit Rudolf Steiner seine Thesen zur Dreigliederung des Sozialen Organismus veröffentlichte, gab es zahlreiche Initiativen im In- und Ausland zur Gründung freier Schulen und Krankenhäuser sowie zum assoziativen Wirtschaften (heißt Hersteller, Händler und Verbraucher schließen sich zusammen und legen gemeinsam fest, was zu welchem Preis und in welcher Menge benötigt wird). Auch wenn diese Initiativen bislang meist lokal begrenzt geblieben sind, künden sie doch von einer anderen, einer zukünftigen Welt.